Österreichs Neutralität: Ein modernes Märchen

Dr. Rainer Hable

Gastkommentar

Durch EU-Verträge sind wir schon lange nicht mehr das, was wir vorgeben zu sein.

„Österreich war, ist und wird neutral bleiben“, sagt BK Nehammer (ÖVP). „Die Neutralität sei überhaupt nicht obsolet“, meint Vizekanzler Kogler (Grüne). Und SPÖ-Chefin Rendi-Wagner wetteifert mit FPÖ-Chef Kickl, wer in der Plenarsitzung zur Ukraine das Wort „Neutralität“ öfter nennt (22- bzw. 20-mal).

Man könnte meinen, wesentliche Amtsträger der Republik hätten kollektiv vergessen, dass Österreich Mitglied der EU ist. Denn der Hinweis auf die formelle Gültigkeit des Neutralitätsgesetzes stimmt zwar, ist aber gleichzeitig unvollständig – und damit falsch. 1995 sind wir Teil einer Wirtschafts- und Sicherheitsunion geworden.

Das war keine Kleinigkeit. Lange war es einhellige Überzeugung, dass ein Beitritt Österreichs zur EWG mit der Neutralität nicht vereinbar ist. Dies galt für den EU-Beitritt umso mehr, als die Sicherheitspolitik schon durch den Maastricht-Vertrag (1992) in der EU verankert wurde. Und so hätte Österreich – um seine völkerrechtliche Neutralität zu bewahren – einen Neutralitätsvorbehalt vereinbaren müssen. Hat es aber nicht.

Mit dem Amsterdam-Vertrag wurden erstmals die Petersberg-Aufgaben in den EU-Vertrag integriert. Auch hier entschied sich der österreichische Gesetzgeber nicht für die Bewahrung des militärischen Kerns der Neutralität, sondern ermächtigte durch Artikel 23j B-VG zur Teilnahme am gesamten Spektrum – einschließlich von Kampfeinsätzen.

Die bedeutendste Säule der EU-Sicherheitspolitik ist jedoch Artikel 42 (7) des EU-Vertrages, der bei bewaffneter Aggression gegenüber einem EU-Mitgliedstaat alle anderen zur Hilfeleistung verpflichtet. Mit dieser Beistandspflicht ist die EU zu einem Militärbündnis geworden, womit die zentrale Bestimmung des Neutralitätsgesetzes – die Bündnisfreiheit – beiseite geschoben wurde. Es gebe doch die irische Klausel im EU-Vertrag, werden jetzt manche einwenden, wonach die EU-Sicherheitspolitik „den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter Mitgliedstaaten nicht berühre“. Dies gewährleiste die österreichische Neutralität.

Lassen wir einmal beiseite, dass eine solche einseitige Deutung der Beistandspflicht – du hilfst mir, aber ich dir nicht – einen Realitätscheck keinen Tag überleben würde. Dieses Argument hält auch rechtlich nicht. Denn einem Beschluss des Europäischen Rats zufolge haben es die neutralen Staaten nicht in der Hand, ob sie im Bündnisfall Hilfe leisten, sondern lediglich wie. Österreich könnte also nicht-militärische Güter liefern oder finanziell unterstützen. Doch wer nicht-militärische Güter empfängt, kann eigene Mittel für militärische Güter freimachen. Und wer Geld erhält, ist ohnehin frei, Waffen zu kaufen. Im Ergebnis macht dies keinen Unterschied. Und so ist die Wahrheit, dass Österreich durch die uneingeschränkte Bindung an die EU-Sicherheitspolitik mit der Neutralität gebrochen hat. Also wie lange soll dieses Märchen von der österreichischen Neutralität noch erzählt werden?

Gastkommentar veröffentlicht im Kurier am 22.3.2022

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