Nur Europa kann seine Verteidigung garantieren
Gastkommentar
Das Fehlen einer echten europäischen Außen- und Verteidigungspolitik ist fatal.
Der Konflikt mit Russland entfacht eine neue Verteidigungsdebatte. Wladimir Putin kennt Europas Schwächen und schreckt nicht davor zurück, diese zu nutzen. Es ist eine Fortsetzung der vergangenen zehn Jahre: Russland droht, geht weiter vor, und die EU akzeptiert. Das passive Verhalten Europas bewirkt die kontinuierliche Verschiebung der Machtbalance zugunsten Russlands. Bestenfalls werden Sanktionen angeordnet, doch effektive Instrumente werden durch das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Verteidigungspolitik verhindert. Das macht uns handlungsunfähig und somit verwundbar. Würde Russland morgen in die Ukraine einmarschieren, könnten EU-Vertreterinnen nur äußern, was sie in solchen Situationen immer äußern: dass man die Situation „genau beobachtet“ und „äußerst besorgt“ ist.
Österreich braucht Strategie
Das Fehlen einer echten europäischen Außen- und Verteidigungspolitik ist nicht nur fatal für die EU als Ganzes, sondern insbesondere auch für Österreich. Anders als die meisten anderen EU-Staaten sind wir kein Nato-Mitglied. Die Neutralität gepaart mit einem Heer, das chronisch unterfinanziert und mangelhaft ausgestattet ist, lässt uns als schutzlosen Beobachter zurück. Österreich braucht eine Strategie, einen aktiven Standpunkt im Thema Verteidigung, sonst werden uns die Geschehnisse unweigerlich überrollen.
Ein Nato-Beitritt Österreichs, wie an dieser Stelle von Gunther Fehlinger gefordert (Gastkommentar, 21. 1. 2022), würde kurzfristig einen zusätzlichen Konflikt mit Russland provozieren und beantwortet die Frage nach der langfristigen europäischen Verteidigung nicht. Selbst innerhalb der Nato agieren die EU-Staaten nicht gemeinsam – und vor allem nicht auf Augenhöhe mit den USA. Die eigene Verteidigung an die USA zu delegieren gleicht einer europäischen Selbstaufgabe.
Vielmehr müsste Österreich, gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten, eine europäische Verteidigungsstrategie innerhalb der EU vorantreiben. Die Nato schützt zwar ihre Mitgliedstaaten in einem Bündnisfall, doch sie wird Europa nicht dauerhaften Frieden bringen können. Das kann nur Europa allein. Friede bedeutet Freiheit, und Freiheit bedeutet Ungebundenheit von anderen Parteien, einschließlich den Vereinigten Staaten. Die EU muss sich in der Verteidigungsfrage emanzipieren und endlich auf eigenen Beinen stehen.
Wie ernst soll es noch werden?
Der russische Aufmarsch an der ukrainischen Grenze führt uns wieder einmal vor Augen, wie dringend es die EU als eigenständigen starken Akteur auf der Bühne der Weltpolitik braucht. Die europäische Handlungsunfähigkeit in der Sicherheitspolitik wird schonungslos von Kontrahenten wie Wladimir Putin ausgenutzt. Wie viel ernster müssen Bedrohungen noch werden, damit die Mitgliedstaaten der Union endlich handeln?
Auch Österreich muss sich bewusst werden, dass es eher früher als später Entscheidungen treffen muss. So wurde in Fehlingers Kommentar richtig angemerkt, dass der Schutzschild „neutral“ nicht ewig hält. Die stärkste europäische
Verteidigung wird Österreich am Ende nichts nützen, wenn es sich dazu nicht bekennt. Österreich muss aktiv an einer starken europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik mitwirken. Wir können es uns nicht leisten, weitere Jahre unter dem Motto „Wird scho’ nix passieren“ zu arbeiten. Das ist keine Strategie, sondern ein Trugschluss.
Gastkommentar veröffentlicht in Die Presse am 2.2.2022